Gesetzliche Erbfolge – Ausschlagung – Irrtum über Folgen der Ausschlagung

– Beteiligung von Personen an die als nachrückende Erben nicht gedacht wurde – Anfechtung der Ausschlagung

OLG Düsseldorf Beschluss vom 12.03.2019 - 3 Wx 166/17
zu §§ 119; 1945 Abs. 1; 1953, 1954; 1955; 1957 BGB
Vorinstanz: AG Duisburg-Hamborn (Aktenzeichen 5 VI 510/16

Leitsatz:
1. Ein zur Anfechtung berechtigender Inhaltsirrtum im Sinne des § 119 BGB kann darin liegen, dass der (auch rechtskundig beratene) Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen, sondern wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt.
2. Bei einer "lenkenden" Ausschlagung kann der Erklärende wegen Inhaltsirrtums anfechten, wenn das Verfehlen des Lenkungsziels (hier: Konzentration der Erbenstellung bei der Ehefrau des Erblassers, um über den Wegfall der ausschlagenden Personen als Erben die wirtschaftliche Lage eines Berliner Testaments herstellen, das zu errichten zu Lebzeiten der Eheleute unterblieben war) darauf beruht, dass die Erbschaft bei einer anderen Person, als beabsichtigt (hier: Bruder des Erblassers), eintritt.
3. Zur Notwendigkeit einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG wegen unterbliebener Hinzuziehung eines nach Auffassung des Beschwerdegerichts möglichen gesetzlichen Miterben zum Erbscheinsverfahren.

Tenor:
Die angefochtene Entscheidung mit dem ihr zugrundeliegenden Verfahren wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - nach Maßgabe der folgenden Gründe an das Nachlassgericht zurückverwiesen.
(…)


Entscheidungsgründe:
I.
Der Erblasser, der nicht letztwillig verfügt hatte, hinterließ seine Ehefrau, die Mutter der Beteiligten, sowie zwei Kinder, die Beteiligte und deren Bruder, ferner als Geschwister einen Bruder.
Mit notariell beglaubigter Erklärung vom 9. August 2016 schlugen die Beteiligte und ihr Bruder - für sich selbst sowie jeweils, gemeinsam mit ihrem Ehepartner, für ihren Sohn - die Erbschaft nach dem Erblasser aus. Der Erklärungstext als solcher beschränkte sich je auf die Formulierung: "Wir schlagen aus allen erdenklichen Gründen die Erbschaft hiermit aus."
Am selben Tage wurde durch denselben Notar ein Erbscheinsantrag beurkundet, mit dem die Ehefrau der Erblassers die Erteilung eines sie als Alleinerbin nach dem Erblasser ausweisenden Erbscheins begehrte. Der Antrag wurde beim Nachlassgericht eingereicht. Daraufhin wandte sich dieses mit Schreiben vom 15. August 2016 wie folgt an den beurkundenden Notar:
"in .... kommen nach der Ausschlagung der Erben der ersten Ordnung die Erben der 2. Ordnung in Betracht (Eltern und Geschwister des Verstorbenen). Deren möglicher Wegfall kann nicht durch die eidesstattliche Versicherung nachgewiesen werden, sondern ist durch Urkunden zu belegen."
Am 19. September August 2016 ging die nachfolgende notariell beglaubigte Erklärung beim Nachlassgericht ein:
"Anlässlich der Nachlassregelung nach dem Tod meines Vaters haben wir uns an den Notar .... in Oberhausen gewandt.
Ziel unserer Beratung war zu erreichen, dass unsere Mutter zunächst alleinige Erbin wird, mein Bruder und ich selbst die Möglichkeit der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen erhalten, und uns jedenfalls der gesamte Nachlass zufällt nach dem Tod unserer Mutter.
Der Notar empfahl den Weg der Erbausschlagung durch die Kinder und Enkelkinder als Lösung, die unseren Vorstellungen genau Rechnung tragen würde. Das Vorhandensein eines Bruders des Erblassers sowie seiner Söhne stelle kein Problem dar.
Durch das Schreiben des Amtsgerichts Duisburg-Hamborn vom 15.08.2016, welches durch den Notar .... mit Schreiben vom 19.08.2016 an unsere Mutter übermittelt wurde, haben wir Kenntnis davon erhalten, dass durch die von uns gewählte Lösung keineswegs der gesamte Nachlass unserer Mutter zufällt, sondern durch die Ausschlagung auch der Bruder unseres Vaters zu einem Viertel erbberechtigt wurde. Damit kann mir und meinem Bruder nach dem Tode unserer Mutter nicht mehr der gesamte Nachlass unseres Vaters zufallen. Im Rahmen der daraufhin eingeholten Beratung musste ich feststellen, dass ich durch die Ausschlagung des gesetzlichen Erbrechts zudem selbst von Pflichtteilsansprüchen ausgeschlossen bin.
Ich erkläre daher sowohl für die in meinem Namen als auch für die namens meines minderjährigen Kindes .... abgegebene Erklärung die Anfechtung der Ausschlagung der Erbschaft wegen Irrtum."
Gestützt auf diese Anfechtung, hat die Beteiligte einen (gemeinschaftlichen) Erbschein beantragt, der ihre Mutter und sie als gesetzliche Miterbinnen zu je 1/2 Anteil ausweist.
Diesen Antrag hat das Nachlassgericht durch die angefochtene Entscheidung zurückgewiesen, weil die Beteiligte ihre Erbausschlagung nicht wirksam angefochten habe, da sie sich in einem unbeachtlichen Motivirrtum befunden habe.
Gegen diesen ihren Verfahrensbevollmächtigten am 6. Juni 2017 zugestellten Beschluss wendet sich die Beteiligte mit ihrem am 14. Juni 2017 bei Gericht eingegangenen Rechtsmittel.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Erbscheinsantragsakte sowie der beigezogenen Akte 5 VI 507/16 AG Duisburg-Hamborn (Ausschlagung und Anfechtung) Bezug genommen.
II.
Die Sache ist infolge der mit weiterem Beschluss des Nachlassgerichts vom 17. Juli 2017 ordnungsgemäß erklärten Nichtabhilfe dem Senat zur Entscheidung angefallen (§ 68 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbs. FamFG).
Das Rechtsmittel der Beteiligten ist gemäß §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 2, 61 Abs. 1, 63 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1, 64 Abs. 1 und 2 FamFG als befristete Beschwerde statthaft und insgesamt zulässig.
Es hat auch in der Sache in dem aus der hiesigen Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Erbscheinsantrag der Beteiligten kann nicht mit der vom Nachlassgericht gegebenen Begründung zurückgewiesen werden, was die Zurückverweisung zur Folge hat.
1. Nach bisheriger, insoweit allein Erklärungen der Beteiligten enthaltender Aktenlage ist die Wirksamkeit der Anfechtung ihrer Erklärung der Erbausschlagung zu bejahen. Schon deshalb kann ihrem Erbscheinsantrag zu entsprechen sein; ob auch die für ihren Sohn erklärte Anfechtung durchgreift, ist dafür ohne Belang.
a) Das Nachlassgericht selbst geht davon aus, die Anfechtungserklärung sei form (§§ 1955, 1945 Abs. 1 BGB) und fristgerecht (§ 1954 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BGB) erfolgt. Diese Einschätzung teilt der Senat.
b) Die - sozusagen auf das rechtliche Minimum beschränkte - Ausschlagungserklärung lässt auch nicht ansatzweise erkennen, welche Erwägungen ihr zugrunde liegen, noch weniger, dass sie unter einer Bedingung hätte stehen sollen. Angesichts dessen mag auf sich beruhen, ob die Ausschlagung hätte mit der Bedingung versehen werden können, sie solle nur erklärt sein, falls durch sie die Ehefrau des Erblassers (gesetzliche) Alleinerbin werde.
c) Nach alledem kommt es entscheidend auf das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes an. Entgegen der Ansicht des Nachlassgerichts liegt nach dem Vorbringen der Beteiligten in ihrer Anfechtungserklärung ein Inhaltsirrtum nach § 119 Abs. 1, 1. Fall BGB vor.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob ein danach gegebener Irrtum über das Bestehen eines Pflichtteilsrechts einen beachtlichen Anfechtungsgrund bildet. Jedenfalls befand sich die Beteiligte, ihrem Vorbringen zufolge, in dem Irrtum, dass die am 9. August 2016 beglaubigten Ausschlagungserklärungen bewirken würden, dass ihre Mutter gesetzliche Alleinerbin nach dem Erblasser werde; dies war nach dem Vortrag der Beteiligten notwendiger Zwischenschritt dafür, letztlich eine dem Berliner Testament gleichkommende Lage herzustellen.
Das Verfehlen der Alleinerbenstellung der Mutter ist Inhaltsirrtum.
aa) Ist ein Rechtsirrtum beachtlich, ändert sich daran nicht dadurch etwas, dass er von einem Rechtskundigen verursacht wurde (BeckOGK BGB - Heinemann, Stand: 01.04.2018, § 1954 Rdnr. 20 m.w.Nachw.).
bb) Die Sonderregeln der §§ 1954, 1955 und 1957 BGB für Frist, Form und Wirkung der Anfechtung ändern oder erweitern die Anfechtungsgründe des § 119 BGB nicht. Ein Inhaltsirrtum im Sinne dieser Norm kann auch darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen erzeugt, sondern solche, die sich davon unterscheiden. Ein derartiger Rechtsirrtum berechtigt nach ständiger Rechtsprechung nur dann zur Anfechtung, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt. Dagegen ist der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung mehr, sondern unbeachtlicher Motivirrtum (BGH NJW 2016, 2954 ff; BGHZ 168, 210 ff).
Gemäß § 1953 Abs. 1 BGB bewirkt die Ausschlagung, dass der Ausschlagende rückwirkend als Erbe "wegfällt"; gemäß § 1953 Abs. 2 BGB fällt die Erbschaft mit Rückwirkung dem Nächstberufenen an. Nach Auffassung des Senats erschließt sich bereits nicht, weshalb die zweitgenannte Wirkung lediglich eine zusätzliche oder gar mittelbare sein sollte: Da es keinen erbenlosen Nachlass geben kann, stehen Wegfall und Anfall als solche in einem unlösbaren Zusammenhang - bildlich gesprochen, stellen beide Wirkungen zwei Seiten derselben Medaille dar -, und allein die Bestimmung im bezeichneten zweiten Absatz der Norm, an wen der Anfall erfolgt, macht weder den Anfall selbst, noch die Begünstigung einer bestimmten Person zu einer nachrangigen Folge. Zumindest aber kann bei der Bestimmung des Vorliegens eines Irrtums als einer subjektiven Gegebenheit und daher bei der Bestimmung der Wesentlichkeit einer Rechtswirkung nicht unbeachtet bleiben, auf welche Rechtswirkung es dem Erklärenden ankam. Diesem steht es frei, bei seiner Ausschlagung den Anfall, und zwar an eine bestimmte Person - die er sich eben als Berufene vorstellt -, als das Primäre und seinen Wegfall als bloßes Mittel zu diesem Zweck zu erachten. Das mag nicht der Regelfall und je nach Sachverhalt mag es auch für das Nachlassgericht nicht einfach sein, einen derartigen Willen hinreichend verlässlich festzustellen. Dies rechtfertigt es aber nicht, zum Ersten die in § 1953 BGB angeordneten Wirkungen als gestuft zu verstehen und es zum Zweiten dem Ausschlagenden zu versagen, an dieser Reihenfolge für seine Person etwas zu ändern (so aber, zumindest im Ergebnis: SchlHOLG ZEV 2005, 526 f; OLG Hamm FGPrax 2011, 236 f; wohingegen OLG München FamRZ 2009, 2119 einen Sonderfall betraf), letzteres etwa mit der Überlegung, ihm verbleibe statt der Ausschlagung die rechtssichere Möglichkeit einer Erbschafts- oder Erbteilsübertragung (so Heinemann a.a.O., Rdnr. 23).
Hier indes unterliegt es, geht man von der Darstellung der Beteiligten in ihrer Anfechtungserklärung aus, keinem durchgreifenden Zweifel, dass allen Ausschlagenden und somit auch ihr in erster Linie an der Anfallswirkung gelegen war und sie sich den Wegfall ihrer Personen als bloßen Weg dorthin vorstellten, wobei sie auch einen anderen beschritten hätten, hätte er zum Ziel der Konzentration der Erbenstellung bei der Ehefrau des Erblassers geführt; denn bei wirtschaftlicher Betrachtung wollten alle im Ergebnis die Lage eines Berliner Testaments herstellen, das zu errichten zu Lebzeiten der Eheleute ersichtlich unterblieben war.
Die hier vertretene Sichtweise führt im Ergebnis dazu, dass bei einer "lenkenden" Ausschlagung - die im Übrigen auch im Anwendungsbereich des § 1643 Abs. 2 BGB erörtert wird und dort einzig hinsichtlich der Genehmigungsfreiheit nach § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB umstritten ist - der Erklärende wegen Inhaltsirrtums anfechten kann, wenn das Verfehlen des Lenkungsziels darauf beruht, dass die Erbschaft bei einer anderen Person, als beabsichtigt, eintritt. Bereits der Entscheidung des Senats vom 21. September 2017 (I-3 Wx 173/17) lag als Ausgangspunkt die hier vertretene Ansicht zugrunde, doch ist es trotz der dort zugelassenen Rechtsbeschwerde zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht gekommen.
cc) Ebenfalls gelangt man im vorliegenden Fall zur Annahme eines Inhaltsirrtums, wenn man davon ausginge, die Beteiligte habe die Rechtswirkung des § 1953 Abs. 2 BGB überhaupt nicht gekannt und sich die Anwachsung ihres Erbteils bei ihrer Mutter vorgestellt, worin ein beachtlicher Rechtsirrtum liege (vgl. OLG Frankfurt FamRZ 2017, 1879 f); oder wenn man generell den Anfall bei einer anderen als der vom Ausschlagenden vorgestellten Person als Inhaltsirrtum ansieht (vgl. MK-Leipold, BGB, 7. Aufl. 2017, § 1954 Rdnr. 7; wohl auch Staudinger-Otte, BGB, Neubearb. 2017, § 1954 Rdnr. 6).

2. Auf diesen Grundlagen ist die Sache gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 FamFG an das Ausgangsgericht zurückzuverweisen.
Dem dort genannten Fall, dass das Gericht des ersten Rechtszuges in der Sache noch nicht entschieden hat, ist es gleichzustellen, falls eine Hinzuziehung als Beteiligter fehlerhaft unterlassen wurde (vgl. Keidel-Sternal, FamFG, 19. Aufl. 2017, § 69 Rdnr. 14 m.w.Nachw.). So liegt es hier.
Das Nachlassgericht hat bisher (außer den Sohn des Erblassers auch) den Bruder des Erblassers nicht zum Verfahren hinzugezogen. Dies ist zwar nach dem Standpunkt des Erstgerichts, das den Erbscheinsantrag von vornherein für erfolglos gehalten hat, vertretbar gewesen, steht indes - wie unter 1. gezeigt - mit der tatsächlichen Rechtslage nicht in Übereinstimmung. Denn der Bruder des Erblassers ist möglicher gesetzlicher Miterbe und jedenfalls auf seinen Antrag als Beteiligter zum Erbscheinsverfahren hinzuzuziehen, § 345 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Satz 2 FamFG. Der Antrag ist zu erfragen, im Übrigen spricht aus Sicht des Senats unabhängig davon alles dafür, dass ihm Gelegenheit gegeben werden muss, insbesondere zum Inhalt der Anfechtungserklärung der Beteiligten Stellung zu nehmen. Gegebenenfalls werden sich erforderliche gerichtliche Ermittlungen anzuschließen haben.
III.
Da der letztliche Erfolg oder Nichterfolg des vorliegenden Rechtsmittels von der endgültigen Entscheidung über den Erbscheinsantrag der Beteiligten abhängt, ist dem Nachlassgericht auch die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu übertragen.
Die Festsetzung des Geschäftswertes findet ihre Grundlage in §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 1, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 GNotKG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats, von der abzugehen kein Anlass besteht, bemisst sich der Wert im Beschwerdeverfahren (auch) nach heutiger Rechtslage ungeachtet der Fassung etwaiger Anträge oder sonstiger Formulierungen von Rechtsschutzzielen anhand des vom Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel verfolgten wirtschaftlichen Interesses. Dieses geht hier nach dem ausdrücklichen Vortrag der Beteiligten dahin, eine Beteiligung des Bruders des Verstorbenen am Nachlass in Höhe eines Anteils von 1/4 zu verhindern. Den Nachlasswert entnimmt der Senat den Angaben in der Anlage zum Schriftsatz der Beteiligten vom 6. Juli 2017.
(…)

« Zurück zur Übersicht